Offener Brief afrikanischer Intellektueller, Schriftsteller-, und KünstlerInnen an Frau Angela MERKEL, Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, und an Herrn Frank Walter Steinmeier, Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland
Offener Brief afrikanischer Intellektueller, Schriftsteller-, und KünstlerInnen an Frau Angela MERKEL, Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, und an Herrn Frank Walter Steinmeier, Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland
18.05.2020
Frau Bundeskanzlerin,
Herr Bundespräsident,
Wir, afrikanische Intellektuellen, Denker-, Schriftsteller-, KünstlerInnen, verurteilen vorbehaltlos die lügnerischen Antisemitismus-Anschuldigungen rechtsextremer fremdenfeindlicher und rechtskonservativer Gruppierungen in Deutschland gegen Professor Achille Mbembe.
Wie Hunderte WissenschaftlerInnen und Fachleuten aus unterschiedlichen Fachbereichen festgestellt haben, sind diese groben Anschuldigungen nicht nur unvernünftig und grundlos, sondern sie stellen auch eine unzulässige politische Instrumentalisierung einer schrecklichen menschlichen Katastrophe dar. Dazu untergraben solche Anschuldigungen zutiefst das Grundrecht auf Kritik, auf Gedanken- und Meinungsfreiheit, auf akademische und künstlerische Freiheit und auf Gewissensfreiheit.
Darüber hinaus können solche Anschuldigungen das Bild Deutschlands in Afrika dauerhaft trüben sowie die Bemühungen um einen freien, respektvollen interkulturellen Dialog – frei von der Last rassistischen Gedankenguts – zwischen Ihrem Land und den politischen Kräften des afrikanischen Kontinents.
Zeitgleich sprechen wir denjenigen BürgerInnen Deutschlands – einfachen BürgerInnen, Akademikern, Journalisten, Intellektuellen und Diplomaten –, die sich offen für Professor Achille Mbembe eingesetzt haben, unseren Dank und unsere Anerkennung aus. Manche – unter diesen deutschen BürgerInnen – könnten ihre Solidaritätsbekundung sogar mit weiteren Schikanen seitens derselben extremistischen Gruppierungen bezahlen.
Frau Bundeskanzlerin,
Herr Bundespräsident,
Unser Brief ist ein Aufruf dazu, gemeinsam in Gleichheit, gegenseitigem Respekt und auf der Basis intellektueller Archive und der Weisheiten der ganzen Welt eine neue Phase im globalen Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus zu eröffnen.
Abgesehen von wirtschaftlichen und anderen Faktoren, die Teil der Staatsraison sind, kennen und schätzen wir Ihr Interesse an Afrika, seinen Völkern, seinen Kulturen und seiner Geschichte.
Jedes Mal wenn Sie in Afrika gekommen sind, haben Ihnen unsere Völker und Regierungen im Gegenzug den würdigsten und herzlichsten Empfang bereitet. Wir sind uns auch Ihres Engagements für den Dialog zwischen den Nationen durch künstlerischen, kulturellen und intellektuellen Austausch – unter Achtung der Wahrheit, ohne Rassismus und für den Fortschritt der Menschheit – bewusst.
Angesichts des beklagenswerten Zustands unserer Welt sind wir davon überzeugt, dass ethische Überlegungen auf sehr breiter Basis dringend und notwendig sind, um alle Erinnerungskulturen an menschliches Leid besser zu teilen und solidarischer zu gestalten.
Wenn alle Menschen frei und gleich geboren sind, und wenn sie alle derselben Spezies angehören, dann gibt es keine menschlichen Leidenserfahrungen, die weniger bedeutsam als andere oder den anderen Leidenserfahrungen gegenüber untergeordnet sind. Die Beziehungen zwischen verschiedenen Erinnerungskulturen an menschliches Leid sind keine Beziehungen des Vorrangs oder der Vormachtstellung, sondern der Solidarität. Bei jeder Katastrophe in unserer gemeinsamen Geschichte ist es die Gestalt eines jeden von uns, die sich verfinstert. Und die Verantwortung der ganzen Erde steht auf dem Spiel.
Wie Sie es wissen, gehören die Völker Afrikas zu denen, die in ihrem Fleisch, ihrem Gewissen und in ihrer Seele auch die Gewalt der Geschichte erlitten haben. Die sichtbaren und unsichtbaren Folgeschäden dieser langen Geschichte bestehen fort. Aufgrund dieser langen Erfahrung haben wir durch die Stimmen unserer Schriftsteller-, Dichter-, Denker-, KünstlerInnen und Intellektuellen etwas Dringendes und Kostbares, was wir mit der ganzen Menschheit – betreffend menschlicher Leidenserfahrung, geistiger Heilung und Wiedergutmachung in der Welt – teilen können und wollen.
Wir sind daher über die anhaltenden Versuche in Deutschland bestürzt, unsere Wortmeldungen zu stigmatisieren, unsere DenkerInnen einzuschüchtern und zum Schweigen zu bringen. Wie kann ein interkultureller Dialog zwischen Ihrem Land und dem afrikanischen Kontinent stattfinden, wenn wir durch alle möglichen Täuschungsmanöver daran gehindert werden, unsere Erfahrungen, deren globalen Bedeutungen und Erweiterungen im gegenwärtigen und zukünftigen Leben mit unseren eigenen Augen/Sinnen und unserem eigenen Verstand zu interpretieren?
Dennoch ist unsere Geschichte nicht lediglich eine Anhäufung von Niederlagen. Es ist vor allem eine lange Geschichte von Widerständen, Kreativität, Erfindungsreichtum und Resilienz. Diese Geschichte hat ein starkes, multidisziplinäres und weltoffenes Denken hervorgebracht, das von unseren Autor-, Dichter- und SchöpferInnen gut vertreten wird. Die Arbeit von Professor Achille Mbembe ist, wie die der früheren Generationen, Teil dieser schöpferischen und gastfreundlichen Denktradition.
Wir prangern daher jeden Versuch an, unsere reichsten Denktraditionen zur Geisel zu nehmen und zu beschmutzen. Als uns während der Epochen des transatlantischen Sklavenhandels und Kolonialismus unser Mensch-Sein überall aberkannt wurde, waren es diese Denktraditionen, die es uns ermöglichten, zu widerstehen und unsere unbestreitbare Zugehörigkeit zur Menschheit zu behaupten.
Afrika ist auch eine der Regionen der Welt, die Menschen aus aller Welt aufgenommen hat und der vieles aufgezwungen werden sollte: Sprachen, Religionen, Formen der Regierung, Gesundheitssysteme, Arten der Bekleidung. So ziemlich alles. Trotz der oft ungleichen und ausbeuterischen Beziehungen haben wir die meisten dieser von außen kommenden Kulturen immer mit Neugier und Offenheit aufgenommen. Wie kann ein interkultureller Dialog zwischen Ihrem Land und dem afrikanischen Kontinent stattfinden, wenn der kritische Blick, den wir auf dieses bunt zusammen-gewürfelte Erbe werfen, von vornherein Gegenstand irrsinniger und eurozentristischer Interpretationen wird?
Wir verurteilen daher alle Unternehmungen, uns koloniale Deutungsweisen unserer Geschichte aufzuzwingen. Zugleich bekräftigen wir unser Recht, unabhängig und auf der Grundlage unserer eigenen intellektuellen Deutungsmuster alle Vermächtnisse zu befragen und zu hinterfragen, die uns durch Gewalt oder List auferlegt worden sind.
Frau Bundeskanzlerin,
Herr Bundespräsident,
Damit der globale Kampf gegen Antisemitismus und Rassismen erfolgreich wird, muss der auf unbestreitbaren ethischen Grundlagen beruhen. Wir afrikanische Intellektuellen, Denker-, Schriftsteller- und KünstlerInnen sind von Folgendem zutiefst überzeugt:
Alle Menschen sind frei und gleich geboren. Sie gehören zur gleichen Spezies. Kraft dieser radikalen Gleichheit gibt es keine Erinnerungskultur, die einer anderen unter-legen ist. Alle Erinnerungskulturen können/dürfen mitgeteilt werden. Denn bei jeder Katastrophe und jedem Unglück in unserer gemeinsamen Geschichte ist es die Gestalt eines jeden von uns, die verfinstert wurde.
Um diejenigen zu schützen, die die Schrecken der Vernichtung erlitten hatten, und die unsäglichen Zerstörung-Traumata immer noch heimsuchen, ist es nicht nötig, den Schrei derer im Keim zu ersticken, die immer noch Gerechtigkeit und Gleichheit fordern.
Im Laufe unserer vielen Widerstandskämpfe in der Geschichte haben wir gelernt, dass eine gerechte Sache nicht mit zynischen und unmoralischen Mitteln bekämpft werden kann. Der Kampf für eine gerechte Sache mit unmoralischen Mitteln hat die Korrumpierung der Sache selbst zur Folge.
Wo historische Verbrechen begangen worden sind, muss die Wahrheit an erster Stelle stehen. Zeugenaussagen für Wahrheit und die Pflicht zur Wiedergutmachung müssen für alle gelten, ohne Diskriminierung.
Die Behauptung, ein Verbrechen durch ein anderes wiedergutzumachen, führt nicht zur Versöhnung. Nur Gerechtigkeit und Wahrheit führen zur Versöhnung.
Alle Erinnerungskulturen der Erde, ohne Ausschluss, sind für den Aufbau einer gemeinsamen Welt unverzichtbar. Alle Völker haben nicht nur ein Anrecht auf eine Erinnerungskultur, sondern alle Erinnerungskulturen haben auch das gleiche Recht auf Anerkennung und Erzählung.
Nur diese Solidarität zwischen allen Erinnerungskulturen an menschliches Leid wird es uns ermöglichen, den universellen Kampf gegen Antisemitismus und alle Formen von Rassismen, Fremdenfeindlichkeit, Sexismus und Islamophobie auf globaler Ebene wiederaufzunehmen.
Der Kampf gegen Antisemitismus und alle Formen von Rassismen ist ein universeller Kampf. Er kann nicht durch lügnerische Anschuldigungen gewonnen werden. Dieser Kampf muss auf einer Ethik beruhen, die unter keinem Verdacht steht. Ohne diese ethische Grundlage läuft er Gefahr, nur ein weiteres Machtinstrument in den Händen der Mächtigen zu werden. Er darf nicht als Vorwand zur Rechtfertigung von Überlegenheit-Dünkel und Kolonial-Verhalten dienen. Dieser Kampf muss in den einzigartigen Dienst von Wahrheit, Gerechtigkeit und Versöhnung gestellt werden.
Die Versöhnung der Menschheit mit sich selbst und mit allen Lebewesen ist der einzige Weg, um den großen Gefahren des Jahrhunderts zu begegnen. Sie ist für das Überleben aller Spezies auf Erden unerlässlich. Ihr Fundament müssen Wahrheit und Gerechtigkeit sein, ohne Unterschied von Rasse, Religion oder Nationalität.
Frau Bundeskanzlerin,
Herr Bundespräsident,
Auf der Grundlage dieser Prinzipien fordern wir – Intellektuelle, Denker-, Schriftsteller- und KünstlerInnen Afrikas – in Verbundenheit mit der Forderung israelischer und jüdischer Gelehrter, Intellektueller und KünstlerInnen einstimmig eine fristlose Enthebung des Herrn Dr. Felix KLEIN als Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus, .
Durch seine Äußerungen und Taten ist Herr Dr. Felix KLEIN moralisch nicht mehr in der Lage, den Kampf gegen Antisemitismus zu führen. Er hat daraus ein Instrument zur Förderung von Rassismus und gesellschaftlicher Spaltung gemacht und das Image Deutschlands in Afrika zutiefst beschädigt.
Angesichts der Schwere der Anschuldigungen und vor allem ihres erlogenen Charakters fordern wir öffentliche Entschuldigungen gegenüber Professor Achille Mbembe, dessen Gesamtwerk von den oben genannten ethischen Grundlagen zeugt.
Frau Bundeskanzlerin,
Herr Bundespräsident,
Es kann keine echte Beziehung zwischen den gesellschaftlichen Kräften des afrikanischen Kontinents und Deutschland geben, solange zwischen uns ein ungleiches Verhältnis besteht, das auf Rassismus, Lügen und Bevormundung beruht.
Deshalb werden wir auch weiterhin dafür plädieren, dass die ganze Wahrheit über die deutsche Kolonialgeschichte in Afrika geklärt wird, beginnend mit dem Völkermord an den Hereros und Namas (1904-1908) und den in anderen Schutzgebieten begangenen Gräueltaten. Unablässig werden wir uns auch dafür einsetzen, dass der Kolonialismus und seine historischen Spielarten – einschließlich Hitlerismus und Nationalsozialismus – in die Lehrpläne der Schulen aufgenommen werden.
Frau Bundeskanzlerin,
Herr Bundespräsident,
Afrika ist ein Kontinent der Gastfreundschaft, in dem der Fremde und der Flüchtling oft willkommen geheißen, gepflegt und respektiert wurden.
In diesem Bereich wie auch in vielen anderen Bereichen sollte nur Gegenseitigkeit als Norm gelten. Wir werden daher weiterhin die Achtung und den Schutz unserer Dichter-, Künstler-, Schriftsteller-, DenkerInnen und Philosophen sowie aller afrikanischen BürgerInnen, die in Ihrem Land leben oder Ihr Land besuchen, vor rassistischen Schikanen fordern.
Wir werden auch weiterhin dafür plädieren, dass sie mit dem gleichen Respekt, der gleichen Rücksichtnahme und der gleichen Freundlichkeit behandelt werden wie Ihre MitbürgerInnen in Afrika und durch das gleiche Gesetz geschützt werden, das jeder-zeit für alle gilt, sei es im Bereich der Meinungsfreiheit, der akademischen, künstlerischen Freiheit oder der Gewissensfreiheit.
Übrigens bekräftigen wir die Forderung der Rückgabe afrikanischer Artefakte, die sich in Museen und Kultureinrichtungen in Deutschland befinden und die Umsetzung einer neuen Politik der deutsch-afrikanischen kulturellen Zusammenarbeit, die auf gegenseitigem Respekt und der Bereitschaft beruht, gemeinsam zu einer gerechten Umverteilung der Ressourcen unserer Welt beizutragen.
Schließlich appellieren wir Ihr Volk und Ihre Regierung eindringlich daran, alle Gebeine und anderen menschlichen Überreste, die sich im Besitz Ihrer Institutionen befinden, nach Afrika zurückzubringen.
Der Kampf gegen Antisemitismus und alle Formen von Rassismen ist ein universeller Kampf. Er kann nicht durch lügnerische Anschuldigungen gewonnen werden. Dieser Kampf muss auf einer Ethik beruhen, die unter keinem Verdacht steht. Ohne diese ethische Grundlage, läuft er Gefahr, nur ein weiteres Machtinstrument in den Händen der Mächtigen zu werden.
Wir hoffen, durch diesen Brief nachgewiesen zu haben, dass die für den Aufbau einer gemeinsamen Zukunft und einer echten globalen menschlichen Gemeinschaft nötigen intellektuellen und ethischen Ressourcen vorhanden sind.
Antikoloniale Denktraditionen sind ein integraler Bestandteil davon.
Übersetzt aus dem Französischen von:
Dr. phil. Daniel Romuald BITOUH
Literatur- und Kulturwissenschaftler, Gründer und Leiter der AFRIEUROTEXT Buchhandlung, Lassallestrasse 20 / 3, 1020 Wien / www.afrieurotext.at
simon INOU
Journalist und Medienkritiker Journalist und Medienkritiker, https://simoninou.wordpress.com/
Initiator dieser Kampagne und der dazu gehörigen Petition
Ludovic Lado
Direktor von Centre d’Etude et de Formation pour le Développement
N’Djamena, Tchad.
Kontakt: ladoludo@yahoo.fr
Link zum Petitionstext:
https://secure.avaaz.org/fr/community_petitions/angela_merkel_chanceliere_allemande__soutien_des_intellectuels_africains_a_achille_mbembeafrican_intellectual_support_ambembe/
DEMNÄCHST:
Idil und Warsame: Ein differenziertes Eintauchen in ein komplexes und wunderbares Land: Somalien.
Eine Buchpräsentation und Besprechung in Anwesenheit des Buchautors Warsame Ahmed Awalle
Wann:10. Oktober 2019. von 19 bis 22 Uhr
Wo:AFRIEUROTEXT Buchhandlung. Lassallestrasse 20 / 3, 1020 Wien
Mit afrikanischem Buffet gegen freiwillige Spende für das AFRIEUROTEXT-Projekt KILET KIASS
Anmeldung: office@afrieurotext.at
NACHFOLGENDE VERANSTALTUNGEN FANDEN SCHON STATT.
LITERATUR- und REFLEXIONABEND. ON NELSON MANDELA´s LEGACY
Politik und Poetik des Möglichen / Literaturabend im Zeichen Südafrikas. Anlässlich des Nelson Mandelas Tages
Diese Veranstaltung fand am 31. Juli 2019 von 19 bis 22 Uhr in der AFRIEUROTEXT Buchhandlung (Lassallestrasse 20 / 3, 1020) anlässlich des 101. Geburtstages von Nelson Rolihlahla Madiba Mandela, [nelsɒn xoˈliɬaɬa ma´ di: ba´ man´ deː la´] (1918-2013), einer politischen Figur globaler Dimension, die in die Weltgeschichte unsterblich als eine Persönlichkeit eingegangen ist, die nachhaltig nicht nur für das Ende und die Beseitigung des Apartheid-Regimes in Südafrika gewerkt und gekämpft hat, sondern er hat durch seine unermüdliche Friedensarbeit den Grundstein für ein friedliches Zusammenleben im Post-Apartheid-Südafrika gelegt. Nelson Mandela wurde dadurch zur Inspirationsquelle für Millionen von Menschen weltweit und bleibt unauslöschlich im globalen Kollektivgedächtnis. Im Mittelpunkt des Literatur- und Reflexionsabends standen Texte südafrikanischer AutorInnen, die sich mit der Geschichte, Gegenwart und Zukunft der sog. Regenbogennation dichterisch oder prosaisch auseinandersetzen. Unterschiedliche AkteurInnen aus der in Wien lebenden afrikanischen Gemeinschaft sowie aus der breiten österreichischen Zivilgesellschaft tauschten Gedanken über das Werk Nelson Mandelas aus und analysierten konstruktiv und produktiv derzeitige Verhältnisse in Südafrika. Der aus Kamerun stammende und seit 2008 in Johannesburg lebende und arbeitende Politik- und Geschichtswissenschaftler Achille Mbembe beschreibt das Post-Apartheid-Südafrika als ein Land, in dem sich die Zukunft unserer Welt anders abspielt als in Europa. Ein Land an einem paradoxen Scheideweg. Südafrikanische SchriftstellerInnen und DichterInnen wie Ivan Vladislavić, Imraan Coovadia, Antjie Krog und Koleka Putuma (unter anderem) unterstreichen jede/r auf eigene Art und Weise die Komplexität des Schreibens im gegenwärtigen Südafrika.
Ivan Vladislavić, südafrikanischer Schriftsteller mit irischen und kroatischen Vorfahren. Ihm geht es um die komplexe Suche nach Wegen eines neuen Zusammenlebens in einer sicherheitsbesessenen Post-Apartheid-Gesellschaft. Sein Roman Exploded view. Johannesburg (2004) führt die LeserIn in die Mäander der Weltmetropole Johannesburg, einer Stadt, die der Kameruner Geschichts- und Politikwissenschaftler Achille Mbembe optimistisch und zukunftsdeutend wie folg beschreibt: “The peculiarity of this place is that it belongs to multiple worlds at the same time. There are parts of this city, which look like Los Angeles. There are other parts, which look like Kinshasa. There are people coming from all over the world. It is this cosmopolitan flavor in Johannesburg that is pretty unique.” (1).
Frau Natascha Bope las Passagen aus dem Roman Exploded view. Johannesburg.
Imraan Coovadia ist südafrikanischer Schriftsteller mit indischen Vorfahren, die nach Südafrika emigrierten. Ein Teil der indischstämmigen südafrikansichen Gemeinschaft kämpfte Seite an Seite mit den Schwarzen Südafrikas gegen das Apartheidregime. Nach der Beseitigung dieses Regimes fühlte sich die indischstämmige Gemeinschaft im Stich gelassen. Dies thematisiert Imraan Coovadia in seinem und durch sein gesellschaftskritisches Schreiben. Aufbruchstimmung und Resignation, das sind die Pole, in denen sich die Figuren seines Romans Vermessenes Land (2016) bewegen. Die indischstämmige südafrikanische Mittelschicht, die einen gewissen wirtschaftlichen Aufschwung genießt, macht nichtsdestotrotz die Erfahrung durch, dass Geld oder Gold nicht vor Diskriminierung schützt. Herr John Osamwony las die Passagen aus Vermessenes Land. Coovadias Roman Gezeitenwechsel (2011) schildert ein Südafrika „unter der Kontrolle von Schwarzen“, aber das Land ist noch weit davon entfernt ein Paradies zu sein. Die Handlung in Gezeitenwechsel spielt in der Amtszeit von Thabo Mvuyelwa Mbeki. Thabo Mbeki, der von 2002 bis 2009 als Präsident der Republik Südafrika amtierte, leugnete den Zusammenhang zwischen HIV-Infektion und AIDS. Die HIV-Debatte in Südafrika ist dennoch sehr komplex und lässt sich überhaupt nicht plakativ erörtern.
Antje Krog kommt aus Kapstadt und ist Tochter weißer Buren. Als Teenager zeichnet sie sich schon als Kämpferin des Apartheid-Regímes ab. Im Buch Country Of My Skull (1998) reflektiert Antjie Krog die 1996 von Nelson Mandela eingesetzte Wahrheit- und Versöhnungskommission. Ziel dieser Kommission war unter anderem, den Weg für ein neues und vor allem friedliches Zusammenleben im Post-Apartheid-Südafrika zu ebnen und gesetzlich zu verankern. Laut Antjie Krog verwandelte sich die Wahrheitskommission in eine Bühne, wo ehemalige Täter sich als Opfer selbst darstellten. Antjie Krog schrieb früher auf Afrikaans (der Sprache weißer Buren) und wusste nach der Beendigung der Apartheid nicht mehr, in welcher Sprache sie schreiben konnte. Afrikaans betrachtete sie künftighin als die Sprache der Täter. Worüber schreiben und in welcher Sprache überhaupt? Das ist die grundlegende Frage, die sich derzeit südafrikanische SchriftstellerInnen stellen. Die Texte von Antjie Krog wurden von Frau Christina Bauer und Frau Melissa Bope gelesen.
Koleka Putuma, geboren 1993, ein Jahr vor dem offiziellen Ende der Rassentrennung. Sie gehört also zu der südafrikanischen Generation, die als „the born free“ (sprich die Frei-Geborenen) bezeichnet wird. Mit einer chili- und skalpellscharfen Sprache seziert sie eine Nation, die noch Symptomen der Racial Segregation aufweist. In ihrem Gedichtband Collective Amnesia (2017) stellt die selbstbewusste, atemberaubende und talentierte südafrikanische Slam-Dichterin Fragen einfach anders. Überzeugen Sie sich selbst hier: WATER
Koleka Putumas Gedichte wurden von der Künstlerin Frau Natascha Merveille Bope deklamiert.
Unter anderen Fragen, die besprochen worden sind: die Frage der gerechten Landverteilung, die Frage der Kluft zwischen Arm und Reich und weitere Fragen. Ein gesonderter Bericht dieser Fragen betreffend ist in Vorbereitung. Die südafrikanischen SchriftstellerInnen, deren Texte inszeniert wurden, stehen paradigmatisch für die Vielfalt der südafrikanischen Gesellschaft.
(1) Zitiert nach Claudia Kramatschek. Zwischen Elegie und Aufbruch – Literarische Impressionen aus Südafrika. Eine Sendung aus der Literaturreihe von Deutschlandfunk. Am 15.07.2018 gesendet. S. 2.
Alle hier erwähnten AutorInnen und mehr sind in der AFRIEUROTEXT Buchhandlung erhältlich. Email: office@afrieurotext.at /
Tel. 0043 650 7235099
Hier ein paar Bilder des Literatur- und Reflexionsabends:
Podiumsdiskussion / MIGRATION, WIRTSCHAFT und DIGITALISIERUNG AUS AFRIKANISCHER PERSPEKTIVE BETRACHTET
Diese Veranstaltung fand am 3. Juli 2019 von 18 – 20:30 Uhr in der AFRIEUROTEXT Buchhandlung (Lassallestrasse 20 / 3, 1020 Wien) statt. Afrikanische Diasporaorganisationen Österreichs als ernstzunehmende AkteurInnen. Wie kann das unternehmerische Potenzial, die Terrain-Erfahrung und die Expertise afrikanischer Diaspora-Organisationen Österreichs in dieser POSTVERNETZUNGSZEIT für die Umsetzung arbeitsplatzschaffender Projekte, Initiativen oder Investitionen in afrikanischen Ländern genutzt werden? Das Wort Postvernetzungszeit (bezogen auf Afrikanische Diaspora-Organisationen) heißt hier keineswegs, dass die Vernetzungsarbeit an Bedeutung verloren hat, sondern es wird vor allem eine verstärkt handlungs- und umsetzungsorientierte Arbeit afrikanischer Diasporaorganisationen herausgestrichen, die darauf abzielt nachhaltig die Lebensbedingungen der Menschen, das heißt auch die Machtverhältnisse vor Ort nachhaltig zu ändern. In einem Zeitalter, wo afrikanische Langzeitherrscher und Entscheidungsträger die Unterschlagung von Steuergeldern, die Marktfrauen, Bananen- oder ManiokverkäuferInnen und TagelöhnerInnen dem Staat zahlen, zu ihrem beliebten Sport gemacht haben. Wenn wenig bzw. nichts mehr von oben (sprich von afrikanischen Langzeitherrschern) zu erwarten ist, dann muss es von unten bzw. von grassroot-Projekten und -Organisationen kommen.
Am 18. Dezember 2018 fand der EU-Afrikagipfel in Wien statt, während dem afrikanische und EU-Staatsfrauen und -männer sich vornahmen, afrikanische Länder künftig als Wirtschaftspartner auf Augenhöhe zu betrachten. Dabei spielte das Thema Digitalisierung eine leitmotivische Rolle, „Taking cooperation to the digital age“. Das Thema Migration aus Afrika nach Europa schien zwar nicht im Vordergrund zu stehen, aber es stand im Raum und schwang von Zeit zu Zeit in den Diskussionen mit. Denn es geht schließlich darum, Arbeitsplätze für die konstant wachsende Anzahl afrikanischer Jugendlicher zu schaffen und dadurch Perspektiven zu konkretisieren. Die versammelten europäischen policy maker einigten sich daher darauf, europäische wirtschaftliche Investitionen in Afrika zu erhöhen und anzukurbeln und einen legalen Rahmen zu schaffen, damit dies unbürokratisch geschieht. Dennoch, damit diese Vorsätze einer differenzierten Partnerschaft mit afrikanischen Ländern spürbare Wirklichkeit werden, ist die Berücksichtigung afrikanischer Diaspora-Organisationen Österreichs und deren Miteinbeziehung in die praktische Umsetzung unerlässlich und ein Muss. Es sollte nicht einseitig, das Unternehmen von österreichischen Klein- oder Großbetrieben sein. Afrikanische Diaspora-Organisationen Österreichs bieten sich nicht nur als Bestandteile eines Projektumfeldes an, sondern sie sind künftighin als notwendige PartnerInnen bei der Bewältigung von “toten Winkeln”, in den Mittelpunkt zu rücken. Ist es nicht an der Zeit, arbeitsplatzschaffende Projekte verstärkt zu fördern, die in afrikanischen Ländern von Afrikanischen Diaspora-Organisationen Österreichs initiiert und in Umsetzung sind? Es eröffnen sich win-win-Partnerschaften zwischen österreichischen klein-, Mittel- oder Großbetrieben und afrikanischen Ländern. Das Podiumsgespräch setzte sich zum Ziel, die österreichische Zivilgesellschaft und vor allem zuständige österreichische Förderinstitutionen von diesem Faktum zu überzeugen und gemeinsam Umsetzungspläne auszuarbeiten. Texte über Wirtschaft und Digitalisierung bezogen auf den afrikanischen Kontinent galten als Gesprächsimpulse. Es hat sich während des Gespräches herausgestellt, dass Bildung und vor allem (Berufs-)Ausbildung eine Grundvoraussetzung für einen effizienten und selbstbewussten Umgang mit unserem digitalen Zeitalter sind. Nicht nur Langzeitherrscher stellen ein Problem dar, sondern in zahlreichen afrikanischen Ländern ist eine deutliche infrastrukturelle Kluft zwischen städtischen und ländlichen Gebieten zu verzeichnen, was die Verbreitung, Anwendung und Nutzung digitaler Medien angeht. Ein Mindestmaß infrastruktureller Investitionen erscheint als Voraussetzung, um digitale Medien produktiv nachhaltig nutzen zu können.
Trotz dieses unbestreitbaren Faktums erfahren afrikanische Gesellschaften eine (Ver-)Wandlung dank des Schrittes ins neue Medienzeitalter. Dass eine Applikation eine Antwort auf eine konkrete Frage bringen muss, ist verifizierbare Tatsache im afrikanischen Kontext. Die “algorhythmische Vernunft” hat ländliche Gebiete Afrikas erreicht und erfasst und gestaltet den Alltag der BäuerInnen mit. Die Entwicklung von Applikationen kann nie ein Selbstzweck sein. Die Tatsache, dass Digitalisierung und Industrialisierung Hand in Hand gehen, zeigt sich am Beispiel zahlreicher europäischer Länder. Nur die neuen Informationstechnologien beweisen jeden Tag ihre Anpassungsfähigkeit. Sie passen sich an die gesellschaftlichen Begebenheiten an und sie bauen Grenzen des Denk- und Machbaren kontinuierlich ab. Circa 18 Millionen RuanderInnen und KenianerInnen verfügen heute über einen leistungsstarken Breitbandanschluss. Dies ist den Unterseekabeln zu verdanken. Zum digitalen Zeitalter gehören auch erneuerbare Energien. All dies scheint unsere ganze Welt in eine neue (Post-) Moderne zu katapultieren. Wenn man jedoch die Tatsache bedenkt, dass Digitalisierung mit Datenmissbrauch einhergeht, kann man sich schon die Frage stellen, welche Gefahren eine Durchdigitalisierung afrikanischer Gesellschaften in sich birgt? Die Digitalisierung des Subjektes und der Privatsphäre zum Beispiel, das Subjekt als durch die “algorhythmische Vernunft” überschriebenes Wesen. Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet kann man nicht umhin zu erkennen, dass Digitalisierung auch ein immenses wirtschaftliches, soziales und politisches Potenzial für afrikanische Gesellschaften bedeutet. Es ist nicht alles negativ. Es gibt nur Herausforderungen, die bewältigbar sind. Eine Publikation von AFRIEUROTEXT zu dem während des Podiumsgespräches besprochenen Thema ist in Arbeit. Ein Videodokument über das Podiumsgespräch ist in Entstehung. Unser Podiumsgäste waren:
PODIUM
Dr. Ing. Günter SCHALL, Leiter der Abteilung Wirtschaft und Entwicklung bei der ADA ( Austrian Development Agency)
Dr. Andreas MELÁN, Leiter der Afrikaabteilung beim BMEIA
Mag.a. Nella HENGSTLER, Afrika-Expertin bei der Wirtschaftskammer Österreich
Pascaline SALAY, in Österreich lebende Unternehmerin aus der DR Kongo
Moderation: Dr. Daniel Romuald Bitouh, Leiter von AFRIEUROTEXT (Kulturorganisation und Buchhandlung mit entwicklungspolitischen bzw. sozialunternehmerischen Agenden in Österreich und in afrikanischen Ländern)
Videodokument (gemütlicher Ausklang)
Am 30. März 2019, von 13 bis 22 Uhr: AFRIEUROTEXTSTRASSEN-, und GEDENKJAHRFEST.
Ort: Max-Winter-Platz 23, 1020 Wien. (GB – Stadtteilbüro) inklusiv Max-Winter-Park
Das AFRIEUROTEXT-Strassen- und Gedenkjahrfest 2019 fand am 30. März am Max-Winter-Park im 2. Wiener Bezirk statt, stand unter dem Motto „Dialog, Toleranz und Akzeptanz als Garanten für ein friedliches Zusammenleben“ und bettete sich in die Kultur der Erinnerung an die Vernichtung der JudInnen und anderer Völker in Konzentrationslager durch den Nationalsozialismus sowie in die Kultur der Erinnerung an die Ausbeutung und Vernichtung von AfrikanerInnen in Kolonialplantagen und Bergbaukolonien ein. In diesen historisch grausamen Fakten sehen der Psychiater Frantz Fanon sowie die Schriftsteller Joseph Roth und Franz Kafka die Brüderschaft zwischen Juden und Schwarzen begründet. Wir leben in einer Zeit, in der überlieferte Denkweisen unsere Gegenwart derart prägen, dass immer mehr politisch-psychische Phantasmen einer Gesellschaft ohne den Anderen grassieren und salonfähig werden. Vor diesem Hintergrund setzte sich das AFRIEUROTEXT-STRASSEN- und GEDENKJAHRFEST 2019 zum Ziel, Dialog, Toleranz und Akzeptanz als Garanten für ein friedliches Zusammenleben zu fokussieren.
Programm
Kinderprogramm:
13:00 Uhr AFRIKANISCH-EUROPÄISCHE KLANGWELTEN: TROMMEL- und TANZWORKSHOP FÜR KINDER mit Profi-Tänzer Jules Mekontso
Die Kinder verkörpern die Zukunft unserer Welt. Es ist daher notwendig, das Bewusstsein und Interesse für kulturelle Vielfalt spielerisch gerade bei jungen Kindern zur Horizonterweiterung und zum Wohl unserer Gesellschaft zu wecken. Dies geschieht nach dem Motto „Je früher desto besser“.
15:00 Uhr LESUNGEN für Kinder und Erwachsene mit musikalischer Begleitung
– Gelesen wird aus einem unterschiedlichen Repertoire von Kinderbüchern Kurzerzählungen europäischer und afrikanischer AutorInnen mit musikalischer Begleitung. Es geht darum, bei Kindern das Bewusstsein und Interesse für kulturelle Vielfalt zu wecken.
– Eva Schörkhuber (Schriftstellerin aus dem 2. Bezirk)
AFRIEUROTEXT-Buchhandlung-Bücherstand und Lesekaffeelounge
Das Gesamtsortiment der AFRIEUROTEXT Buchhandlung wird ausgestellt. Reichhaltige Bücherstände mit Schwerpunkt AFRIKA und EUROPA werden
den BesucherInnen zugänglich gemacht.
AFRIKANISCHE KULINARIK
(köstliche afrikanische Spezialitäten für die FeinschmeckerInnen) von 13:00 Uhr bis 22:00 Uhr
17:00 Uhr PODIUMSGESPRÄCH
Titel: DIALOG, TOLERANZ und AKZEPTANZ als Garanten für ein friedliches Zusammenleben
19:00 TANZPERFORMANZ
– Jules Mekontso (Profi-Tänzer) und seine Tanzgruppe “Afro Yemba”
22:00 Uhr Ende des Festes
Das AFRIEUROTEXT Strassen- und Gedenkjahrfest unterstützte die derzeit in Jaunde/Kamerun entstehende AfriEurotext-FRAUENBERUFSAUSBILDUNGSSTÄTTE. 1. Phase: Bäckereischule und Digitaliserung
Ein paar Bilder des Festes: